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Forum zum Sarkophag Archiv und Forschung. Die Seite rund um das Unglück von Tschernobyl und den Sarkophag über dem havarierten Reaktor.
 
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 Unfall Leningrad-1 1975

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TZV
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Unfall Leningrad-1 1975 Empty
BeitragThema: Unfall Leningrad-1 1975   Unfall Leningrad-1 1975 EmptySo Feb 17, 2013 11:08 am

Hallo liebe Community!

Heute möchte ich euch einen Unfall - ja, auch ich benutze in diesem Fall sogar das Wort - im ersten Block des Kernkraftwerks Leningrad vorstellen. Mal kurz Fakten zum Block: Der erste Entwurf für den Reaktor in dieser Form wurde 1966 im Auftrag von Nikolai Dolleschal erarbeitet auf Anfrage des Ministeriums für mittelschweren Maschinenbau für das Kernkraftwerk Leningrad anstatt zwei WWER-210 einen Reaktor zu entwerfen, der dem Stand der Technik entspricht. Auf Basis des 1000 MW-Modells, das aus Basis der beiden Überhitzerreaktoren in Belojarsk entworfen wurde, hatte man einen Reaktor entworfen mit niedrigeren Dampftemperaturen, Zwangsumlauf aber prinzipiell identischen Aufbau. Das war die Geburtsstunde des RBMK-1000. Leningrad-1 ging am 1. März 1970 in Bau, wurde am 12. September 1973 erstmals kritisch gefahren, am 21. Dezember 1973 erstmals ans netz gegangen und wurde ab dem 1. November 1974 kommerziell genutzt, was im Falle der UdSSR-Anlagen bedeutet, dass der reguläre Betrieb aufgenommen wurde.

Während des Probebetriebs gab es mehrere Probleme mit der Anlage, die aber behoben werden konnten. Die Störung die ich euch beschreiben möchte fand am 30. November 1975 statt. Der Block befand sich zuvor in Revision. Der Unfall spielt im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl eine extrem wichtige Rolle, da es eine Art Warnung war. Nun zum Verlauf:

Wie bereits erwähnt war der Block aus der Revision wieder angefahren und erreichte am 30. November eine elektrische Leistung von 800 MW. Das bedeutet, dass beide Turbogeneratoren am Netz waren, einer unter Volllast, der andere unter Teillast. Allerdings gab es eine Fehlfunktion am Druckregler an der ersten Turbine, weshalb sich diese abschaltete. Eine Eigenart des RBMK-1000 sind ja die Abschaltmodi. In diesem Fall wurde AZ-2 ausgelöst. AZ-2 bewirkt, dass die Leistung des Reaktors auf 1600 MWth verringert wird, sodass der andere noch funktionierende Turbogenerator am Netz bleiben kann. Jedenfalls kam es kurz darauf um 2:00 Uhr zu einem Bedienungsfehlers indem er den zweiten, noch laufenden Turbogenerator abschaltete. Die Folge war, dass der Blockschutz (BAZ) auslöste, woraufhin automatisch AZ-5, also die Notabschaltung des Reaktors angeregt wird und den Reaktor abschalten will. Bekannt ist da die langsame Einfahrtgeschwindigkeit der Steuerstäbe gewesen. Das hatte allerdings auch Vorteile, von denen einer hier zum Einsatz kommt: Dem Operator ist es gestattet bei sofortiger Ursachenklärung die Schnellabschaltung zu unterbrechen und den Block wieder hochzufahren. Das hat man in diesem Fall getan und den Reaktor wieder auf Leistung gebracht.

Mehrere Stunden später, gegen 6:15 Uhr erreichte der Reaktor wieder eine Leistung von 1000 MWth. Was man bei späteren Analysen feststellte und gerade das ist eine Parallele, ist eine Xenonvergiftung im Reaktor, die sich in den vergangenen drei Stunden angesammelt hatte. Dies erforderte das Entfernen von Steuerstäben. Während zuvor noch 35 Stäbe im Kern waren, sind es um 6:15 Uhr gerade mal noch kummuliert auf die Reaktivitätsreserve 3,5 gewesen. Übrigens waren das weniger Stäbe, als 1986 im Block vier vor der Explosion. Allerdings baute sich diese Vergiftung schnell ab, weshalb in der folgenden halben Stunde diese Reaktivitäsreserve auf 21 Steuerstäbe erhöht wurde. Allerdings erreichte der Block bereits um 6:33 Uhr eine Leistung von 1720 MWth, bedeutet eine Leistungserhöhung von 720 MWth innerhalb der vergangenen 18 Minuten. Aber genau hier ist das Problem: Für solch einen schnellen Leistungsanstieg ist der RBMK nicht ausgelegt gewesen. Zum gleichen Zeitpunkt bemerkte der Operator, dass sich der Wasserbedarf in den Druckröhren reduzierte und die Feuchtigkeit im Gassystem des Blocks zunahm. Das deutete auf eine oder mehrere Leckagen an den Druckröhren hin, weshalb der WIUR entschied den Reaktor per Notabschaltung AZ-5 abzuschalten.

Hier trat erstmals der Effekt auf, der den vierten Block in Tschernobyl zum Verhängnis wurde: Durch die Graphitverdränger und das Verschieben des Leistungsherdes in den unteren Reaktorteil begann sich das Xenon plötzlich abzubauen. Die Leistung an den Brennelementen lag anstatt bei 80 Watt auf 1 Zentimeter Länge bei ganzen 900 Watt je Zentimeter Länge. Die Leistung lag also mehr als das elffache höher, als normal. Tatsächlich wurde damit die Auslegungsleistung überschritten, weshalb die Hüllrohre begannen zu schmelzen. Die Folge war zudem, dass die Leistung des Reaktors begann zu steigen, innerhalb weniger Sekunden auf 2800 MWth von den zuvor 1720 MWth. Durch die Neutronenkonzentration im unteren Bereich kam es zu einem Krisenherd am Kanal 13-33, der aufgrund der extrem hohen Energiedichte eine Leckage von 6 Zentimetern Länge am Ende aufwies.

Man kann wirklich sagen, dass glücklicherweise aufgrund der zuvor erhöhten Reaktivitätsreserve auf 21 Steuerstäbe die Leistung wirklich nicht 2800 MWth überschritt. Wäre es wohl anders verlaufen, wäre bereits 1975 der Reaktor durchgegangen. Der Effekt selbst wurde nur beim Testbetrieb beobachtet, allerdings nur mit kleinen Auswirkungen. Nach dieser Störung gab es generell ein Umdenken und eine Änderung an dem Aufbau des Reaktors. Genauer führte es zur Entwicklung der zweiten RBMK-Generation, die statt nur 179 Steuerstäbe insgesamt 211 Steuerstäbe aufweist. Eine weitere Errungenschaft ist die automatische Leistungsregelung. Einmal die lokale Leistungsregelung in 12 Zonen im Reaktor und die globale Leistungsregelung in 7 Zonen im Reaktor. Diese kann feststellen, wenn einzelne Brennelemente oder Bereiche im Reaktoraufgrund erhöhter Neutronenaktivität eine kritische Leistung erreicht. Um die Leckage an Druckröhren festzustellen wurde das Signal Druckanstieg im Reaktorbehälter eingeführt, dass bei Druckveränderungen über den Auslegungswert anklingt. Weiter wurde eine Änderung im Regelwerk eingeführt die festlegte, dass nicht weniger als 15 Steuerstäbe im Kern sein dürfen, um eine Reaktivitätsgrenze zusetzen.

Insgesamt waren die Entwicklungen und Verbesserungen zwar durchdacht, brachten aber nicht viel. Das träge Steuersystem blieb erhalten, genauso die Graphitverdränger, auf die konstruktionsbedingt nicht verzichtet werden kann. Auch die Grenze von 15 Stäben wurde tatsächlich regelmäßig unterschritten. Ein Bericht nach dem Unfall in Tschernobyl berichtete davon. Jedenfalls ist diese Störung so ziemlich identisch mit dem Zwischenfall im vierten Block von Tschernobyl. Ich könnte mir vorstellen, hätte man den Unfall besser Analysiert und mehr Lehren daraus gezogen, wäre es nie 1986 zur Explosion gekommen. Es ist jedenfalls in Anlehnung an Tschernobyl interessant, über diesen Zwischenfall bescheid zu wissen.

Falls Ihr noch Fragen habt oder ein Feedback hinterlassen wollt, würde ich mich sehr über einen Beitrag von euch freuen.

Beste Grüße,
TZV
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MrT
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MrT


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BeitragThema: Re: Unfall Leningrad-1 1975   Unfall Leningrad-1 1975 EmptyMo Feb 18, 2013 8:18 am

Die Xenonvergiftung im Reaktor ist eine interessante Parallele zu Tschernobyl 1986. Ich dachte bisher immer, mit der Entnahme von noch mehr Brennstäben, hätte damals das Unglück verhindert werden können... so zwecks Kontrollierbarkeit. Offenbar war das aber anders.

Gruß, MrT
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